Eckdaten der aktuellen Situation in Thüringen

Datengrundlage:
Eckdaten zur HIV-Epidemiologie in Thüringen vom 25.11.2021
Prävalenz & Inzidenz, Erstdiagnosen
2020 lebten nach aktueller RKI-Schätzung (von Ende 2021) mindestens 740 Menschen mit HIV in Thüringen.
Das entspricht einem Zuwachs um 45 Menschen gegenüber 2019 (davon 30 Männer, 15 Frauen).
Es wurden 35 HIV-Erstdiagnosen dokumentiert, was einem Rückgang um 10 Personen gegenüber dem Vorjahr entspricht. 10 der 35 Erstdiagnosen (ca. 30%; im Bund ~34%) erfolgten mit fortgeschrittenem Immundefekt, 5 im Vollbild AIDS (ca. 15%; im Bund ~18%).
Statuskenntnis, Diagnostikrate & Behandlung
Im Berichtsjahr waren 79% der Menschen mit HIV in Thüringen diagnostiziert (+25 Pers.). Jede fünfte Person mit HIV wusste hingegen (noch) nichts von ihrer Infektion (~21%).
Etwa 38% der HIV-Neudiagnosen werden erst 8-9 Jahre nach Infektion festgestellt. Eine frühere Diagnosestellung würde die Lebens- und Behandlungsperspektiven vieler Menschen mit HIV daher deutlich verbessern.
Die HIV-Diagnostikrate in Thüringen hängt der des Bundes weiterhin deutlich hinterher (Thüringen 79%, Bund 90%), wenn auch ggü. dem Vorjahr ein leichter Anstieg zu verzeichnen ist (+3%). Mit einer so fortlaufenden Steigerung dieser Größenordnung werden die UNAIDS-Ziele bis 2025 bzw. 2030 in Thüringen nicht zu erreichen sein (Details weiter unten). Zur Steigerung der Diagnostikrate bedarf es daher der dringenden Ausweitung niedrigschwelliger, zielgruppennaher, nichtärztlicher Testangebote inkl. damit verbundener Beratungs- und Präventionsleistungen).
Der Anteil der antiretroviral behandelten HIV-positiven Personen in Thüringen lag 2020 bei 98% (+40 Personen), davon wiederum 96% mit erfolgreichem Verlauf.
HIV wird also auch in Thüringen vor allem durch nicht diagnostizierte Personen weitergegeben.
Männer, die Sex mit Männern haben (MSM)
und die Corona-Pandemie
Etwa 77% der Menschen mit HIV in Thüringen sind Männer (570 Personen).
Das entspricht einem Zuwachs um +30 Personen ggü. dem Vorjahr. Der MSM-Anteil an HIV-Neuinfektionen betrug ebenfalls 77%. Ihr Anteil ist also hierzulande etwas größer als im Bund (68%).
Während die HIV-Inzidenz unter MSM im bundesweiten Trend leicht sinkt, stieg sie in Thüringen zuletzt leicht an (+35 Personen).
Der Anstieg dürfte einerseits auf verzögerte Diagnosestellungen früherer HIV-Infektionen zurückzuführen sein (late presenter).
Es ist aber auch wahrscheinlich, dass es im Kontext der Corona-Schutzmaßnahmen im 1. Pandemiejahr zu Übertragungen gekommen ist.
Einflussfaktoren der Corona-Pandemie:
Die Kontaktbeschränkungen haben sich in Verbindung mit zum Teil ungünstigen Bewältigungsstrategien einiger MSM mitunter negativ ausgewirkt. Neben hohen psychosozialen und -sexuellen Belastungen wurde insbesondere durch die Lockdowns eine Verlagerung von Sexkontakten in private Räume provoziert, wodurch MSM – und vor allem jene MSM mit Chemsex-Präferenz – einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt waren.
Neben reduzierten oder vollständig geschlossenen Testangeboten waren auch PrEP-Medikamente und HIV-Selbsttests zeitweise aufgrund global gestörter Lieferketten nur eingeschränkt verfügbar. Trotz überdurchschnittlichem Risikobewusstsein und einer vergleichsweise hohen Testbereitschaft unter MSM konnte dem tatsächlichen Diagnostik- und Behandlungsbedarf während der Krise nicht abgeholfen werden.
MSM mit Chemsex-Präferenz
und intravenös Drogengebrauchende
Im Berichtsjahr zeigte sich im Freistaat adäquat dazu wiederholt ein leichter Anstieg der HIV-Inzidenz in der Personengruppe intravenös Drogengebrauchender (+25 Personen).
Jede 10. HIV-Neuinfektion ist auf iv-Konsum zurückzuführen (10,4%). Somit gleicht sich die Situation in Thüringen der bundesdeutschen Entwicklung an.
[Hinweis: Die Personengruppe ‚intravenös Drogengebrauchende‘ wird nicht nach ihrer sexuellen Orientierung oder Identität differenziert, beinhaltet also sowohl hetero-, homo- oder asexuelle Männer, Frauen oder queere Personen.]
Die Chemsex-Präferenz eines Teils der MSM dürfte einen zumindest anteiligen Einfluss auf die Entwicklung der HIV-Infektionen im Kontext intravenösen Drogenkonsums ausüben. Belastbare Daten zur lokalen Situation des Phänomens sind rar. Die MSM-Chemsex-Szene ist hierzulande bislang noch wenig evident, es bestehen jedoch Erkenntnisse aus dem europäischen Ausland, vor allem aus Großbritannien. Folglich berücksichtigt die derzeitige Studienlage keine für den ost- und mitteldeutschen Raum relevanten Spezifika, wie z. B. die Überpräsenz von Methamphetamin (Crystal Meth).
Die European MSM Internet Survey 20171 bewertet Chemsex als überwiegend großstädtisches Phänomen. In Deutschland ist Berlin mit deutlichem Abstand der wichtigste Chemsex-Hotspot. Thüringen ist ein Flächenland. Adäquat ist die lokale MSM-Chemsex-“Szene“ nach unserem bisherigen Kenntnisstand eher lose strukturiert. Sexualisierter Substanzkonsum erfolgt zumeist im individuell organisierten Rahmen. Erfahrungsgemäß sind jedoch viele (vor allem jüngere) MSM bundesweit aktiv, weshalb überregional erworbene Infektionen wahrscheinlich sind.
Heterosexuelle Kontakte
Die Inzidenz von HIV-Neuinfektionen auf heterosexuellem Übertragungsweg war 2020 leicht rückläufig (-15 Personen). Das ist erfreulich. Jedoch ist anzumerken, dass sexuelle Gesundheit im ersten Jahr der Coronakrise allgemein wenig Beachtung erfahren haben dürfte und das Testinteresse heterosexueller Menschen unter den Bedingungen der Lockdown-Zeiten deutlich reduziert war. Ein unter Umständen verzögerter Wiederanstieg der Inzidenz in den Folgejahren ist daher nicht auszuschließen.
Todesfälle
In Thüringen sind 2020 fünf Personen an AIDS verstorben.
Das entspricht dem Vorjahresniveau.
Entwicklungsziele der UNAIDS bis 2025
Thüringen erfüllt aktuell 2 von 3 Kernforderungen der UNAIDS-Agenda bis 2025,
die die Statuskenntnis, den Versorgungszugang und den Behandlungserfolg betreffen.
Ein klarer Entwicklungsrückstand besteht noch im Bereich der Diagnostik.
Von den 2020 in Thüringen lebenden ca. 740 HIV-positiven Menschen (100%) hatten
- erst 79% per Diagnose Kenntnis von ihrer Infektion.
- 98% der Diagnostizierten befanden sich in antiretroviraler Behandlung.
- 96% der ART-Patienten waren erfolgreich behandelt.
Zielsetzung ist die Erreichung von jeweils 95% bis 2025 bzw. 100% bis 2030. Das heißt aktuell:
- 95% der HIV+ Menschen sollen ihren Status kennen
(Zugang zu gesicherter Information und Diagnostik) - 95% von ihnen sollen zeitnah und fortlaufend Zugang
zu ärztlicher Versorgung und Behandlung haben
(antiretrovirale Behandlung). - 95% sollen erfolgreich behandelt sein (also eine
Viruslast unter der Nachweisgrenze aufweisen)
Aktueller Entwicklungsstand Thüringens nach UNAIDS-Kriterien:

Fußnoten/Quellen
1 vgl. IWWIT: „Neue Daten zu EMIS“, Deutsche Aidshilfe, 2017; online unter: https://www.iwwit.de/blog/2018/07/neue-daten-emis-2017/